Faszination Alpensegelflug

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 Ein Erlebnis besonderer Art ist für uns Segelflieger immer wieder das Fliegen in den Alpen. Als Alpinisten mit Flügeln können wir an einem einzigen Tag während eines ausgedehnten Streckenfluges unzählige Gipfel grüßen und dabei mühelos den Blickpunkt wechseln. Uns ist es vergönnt, aus der Adlerperspektive in dieser einzigartigen Kultur- und Naturlandschaft gleichsam zu lesen und Strukturen und größere Zusammenhänge zu erkennen, die dem Erdbewohner normalerweise verborgen bleiben. Dazu gesellen sich die Erlebnisse und Erfahrungen im Umgang mit den Kräften der Natur. Um oben zu bleiben und schnell voranzukommen, nutzen wir Hotspots und Energiepfade, die sich unter Windeinfluss und Sonneneinstrahlung im Tagesgang an den Bergflanken und entlang der Gebirgszüge formen. Nur zu oft erforderen aber auf langen Strecken veränderte Wetterbedingungen ein rasches Überdenken und Ändern unseres Flugvorhabens.

  Dieses Spannungsfeld zwischen beschaulichem Betrachten sowie ständigem vorausschauenden Abwägen und Handeln ist im Alpensegelflug besonders ausgeprägt. Es ermöglicht andererseits besondere Eindrücke weit über unseren gewöhnlichen Erfahrungshorizont hinaus und gibt uns Gelegenheit zu wachsen, und das nicht nur rein fliegerisch! Doch wie kann man einem mit der Materie wenig vertrauten Leser diese Erlebnisse nahe bringen und ihn daran teilhaben lassen? Ich will es mit einer Auswahl von drei typischen Beispielen versuchen.

 

Hoch oben, doch meist dem Boden nah

In einem Gespräch behauptete letztens ein Fliegerkollege, beim Flug in großer Höhe sei seine Ehrfurcht vor diesem und jenem mächtigen Berg gewichen. Es stimmt, dass alles kleiner und flacher wird, je höher wir steigen. Aber dieses Fliegen nach Gutsherrenart wie im Flachland ist in den hohen Bergen nicht immer möglich. Oft bewegen wir uns in den Alpen im Relief, d.h. deutlich unterhalb der Gräte nahe am Berghang, etwa wenn wir nach langen Talquerungen mehr Höhe verloren haben, als uns lieb ist. Dann müssen wir uns geduldig in der Beherrschung einer elementaren Technik des Alpensegelfluges üben: dem Hangflug.

 Der ideale aufwindspendende Hang wird von einem Talwind angeströmt und ist sonnenbeschienen. Der Wind trifft auf den Hang und wird nach oben ausgelenkt, weshalb man auch anschaulich von einem Prallhang spricht. Zusätzlich entsteht durch die Sonneneinstrahlung Thermik, die den Aufwind verstärkt. Mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit sind diese Verhältnisse an exponierten, dem Talwind ausgesetzten Bergstöcken voraussagbar. Der Tête de Siguret , der Prachaval oder der Charbonnel in Frankreich sind nur einige von vielen Beispielen für verlässliche Thermikspender bzw. Hotspots.

 Leider ist die aufwärts gerichtete Luftströmung auf einen engen, hangnahen Bereich beschränkt, so dass wir unseren Segler je nach Gegebenheiten in einem Abstand von 20–70m parallel zum Hang steuern müssen. Da ein solcher Hang nur eine begrenzte räumliche Ausdehnung hat, sind wir zudem gezwungen, noch vor dem Ende des Steiggebietes flache Umkehrkurven zum Tal hin auszuführen und den Segler wieder auf Gegenkurs zu bringen. In der Draufsicht hat unser Flugweg somit die Form einer Acht.

 Es ist einleuchtend, dass diese Manöver nahe am Berg die sichere Beherrschung des Flugzeugs voraussetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass wir an solchen Hotspots auch auf andere Luftsportler achten und mitunter noch Seilbahnen und Materialaufzügen ausweichen müssen. In einer solchen Situation hat sich die Perspektive und damit einhergehend meist auch die Gemütslage grundlegend gewandelt: die Berge um uns herum sind plötzlich wieder hoch und mächtig, die Täler eng eingeschnitten und in die Kabine dringt die erwärmte, harzige Luft des Bergwaldes. Alle hochfliegenden Pläne sind dann hintan gestellt. Es gilt, am Berg wieder schnell Höhe zu gewinnen oder wenigstens zu halten. Und wie im richtigen Leben bewahrheitet sich: je tiefer man kommt, umso schwieriger und zäher wird es, wieder Anschluss nach oben zu finden!

 

Gefiederte Begleiter

 Kreisende Vögel erleichtern uns das Aufspüren der Steiggebiete oder weisen uns durch Kreisverlagerungen die Stelle, an der noch bessere Steigwerte zu erwarten sind. Ausgezeichnete Thermikflieger sind Greife wie Bussard und Milan, allen voran der mächtige Adler. Seitdem in den Alpen wieder Geier ausgewildert werden, ist auch ihr majestätischer Anblick keine Seltenheit mehr.

Bei Adlern ist besondere Vorsicht geboten, da diese Geschöpfe keine natürlichen Feinde kennen. Sieht uns ein Adler als Eindringling an, dann reagiert er gereizt und zeigt das charakteristische wellige Auf und Ab des Girlandenflugs, ein deutliches Zeichen für uns, spätestens jetzt das Feld zu räumen. Im Gegensatz dazu sind Geier allzeit friedvolle Thermikflieger. Vorsicht bei der Annäherung ist dennoch geboten, da die massigen Tiere mit einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern in der Luft nicht besonders wendig sind und ihre Fluglage flügelschlagend nur mühsam ändern können.

Wenn man um diese Eigenarten weiß und sie respektiert, dann ist eine Begegnung mit solchen Vögeln im Hochgebirge die Naturerfahrung schlechthin. Am Plateau des Vercors südlich Grenoble traf ich einmal auf Adler, die in schwacher Thermik in flachem Kreis kurbelten. Ich reduzierte meine Fahrt und reihte mich auf gleicher Höhe auf der Außenbahn ein. Eine Zeitlang konnte ich so ihren Flug genau studieren und dabei sogar den Strömungszustand am Deckgefieder ihrer Schwingen ablesen. Die Adler ihrerseits waren nicht minder neugierig und drehten ihre Köpfe in meine Richtung. Auge in Auge bildeten wir so eine Weile eine stumme Zweckgemeinschaft in 2.000m Höhe und gewannen allmählich Höhe.

 

Wellen im Luftozean

 An Tagen, an denen ein starker Oberwind über die Gipfel und Kämme streicht, gerät die Luft auf der Leeseite der Gebirge in Schwingung. Durch das nachgelagerte Relief - insbesondere durch quer zum Wind stehende Gebirgszüge - werden diese Schwingungen durch Resonanz noch verstärkt. Es bildet sich ein Wellensystem aus, das wir Segelflieger für ausgedehnte Streckenflüge nutzen, in dem wir entlang den aufsteigenden Wellenbereichen 'surfen'.

Unter Segelfliegern gilt die Weisheit „je später der Abend, umso schöner die Welle“, da dann die Wellensysteme quasi in Reinform auftreten und nicht mehr durch konvektive Vorgänge gestört werden. Doch die Erfahrung lehrt uns auch, dass sich Wellen und Thermik nicht gegenseitig ausschließen und im Gebirge beide Phänomene überraschend oft koexistieren und sogar miteinander gekoppelt sind. Wir Segelflieger sind unter solchen Bedingungen Atmosphärenforscher, die in ihren Fluggeräten die komplexen meteorologischen Wechselwirkungen am eigenen Leib erfahren. So wie an jenem verheißungsvollen Tag, als wir in einer Gruppe von mehreren Fliegern von Serres südlich von Grenoble in Richtung nördliche Alpen starteten.

Die Thermikprognose für diesen Tag war gut, Wolkenoptik und Aufwinde entsprachen anfangs unseren Erwartungen. Wir kamen im losen Verband rasch voran. Doch nach 100km hob im Talkessel über Bardonecchia das große Jammern an. Keine der einladend aussehenden hohen Thermikwolken hatte den erwarteten kräftigen runden Bart. Stattdessen trafen wir auf Zitterluft und enge, schwierig zu zentrierende Aufwinde mit stark schwankenden Steigwerten. Die schwierigen Verhältnisse hielten an, als ich nördlich des Col du Carro auf zerfranzte, kurzlebige Cumuli stieß, die sich im Lee wieder auflösten. Diese Wolken ähnelten Rotoren, die auf engstem Raum starke Auf- und Abwinde entwickeln und die ein Indiz für das Vorhandensein von Wellen sind. Die unsteten, sehr ruppigen Aufwinde unter diesen Wolken waren aber nicht zu fassen, so dass ich mich nach Alternativen umsehen musste.

Neugierig geworden flog ich unter eine der größeren Wolken westlich des Gran Paradiso. Dort fand ich zunächst gute Thermikbedingungen vor. Als ich bis zur Wolkenbasis gestiegen war, steuerte ich den luvseitigen Wolkenrand an und wurde plötzlich wie von einer unsichtbaren Hand vor der Wolke in das sanfte, ruhige Steigen einer Welle getragen. Das Insistieren und Experimentieren hatte sich gelohnt, denn nun konnte ich die Wolke überhöhen und aus über 4.400m die anderen noch vor Aosta einholen. Nördlich des Monte Emilius traf ich erneut auf ein Wellenband, das wahrscheinlich durch das Massiv des Mont Blanc ausgelöst wurde. Der Wind in 5.000m betrug über 70km/h aus NW. Im schnellen Vorflug eilte ich ins Valpelinetal bis zum Matterhorn. Alles war eine einzige Schwingung. Im gleißenden Sonnenlicht konnte ich aus fast 6.000m auf die von Norden an den Gräten anstauenden Wolkenmassen blicken. Meine Sportsfreunde hatten unterdessen ihren Flug thermisch fortgesetzt und genossen den kleinen Grenzverkehr in die Schweiz einige Stockwerke unter mir am Kleinen Matterhorn.